Orange

[prosa]

Ihre Knie waren steif und schmerzten sehr. Am liebsten hätte sie sich sitzend, mit ausgestreckten Beinen, gedehnt, aber vor den Anderen wäre es ihr peinlich gewesen. Sie sollten nicht sehen, wie ungelenkig sie war.

Wieso war ihr heute schon wieder so schwindelig? Ist das jetzt echt nur ihr niedriger Blutdruck? Die Hand führt zur rechten Schläfe, drückt auf ihr herum, tut sie weh? Oder die linke? Früher hatte sie nie Kopfschmerzen oder Schwindel. Also, dolle ist es jetzt auch nicht. Aber sollte sie das nicht doch einfach mal checken lassen? Schaden kann es ja nicht. Ja.

Sie merkt, wie sich ihre Augenbrauen wieder so zusammengezogen haben und versucht, sie über das Aktivieren ihrer Stirn zu lockern. Jemand stößt beim Aufstehen von hinten sanft gegen sie; sie erschrickt sich so sehr, dass sich das Augenbrauenproblem von ganz alleine gelöst hat.
Die Gesichtsmuskulatur genauestens und bewusst zu beobachten, ist auch so eine Art Meditation.
Der Teppich ist so weich wie die neue Überziehjacke, die sie heute noch nicht tragen konnte, weil sie ungewaschen ist. Sie vergräbt ihre Finger im flauschigen Boden.

„Sau weich, oder?“, fragt die neben ihr. Sie schauen sich in die Augen. Dicke, dunkle Pupillen.
Sie hat überhaupt keine Lust auf Smalltalk mit dieser Frau. ‚Sie doch auch nicht auf welchen mit dir, sie tut nur so, die muss nur ihr offenes und freies Wesen rechtfertigen‘, dachte sie.

Viele sagen, sie sei schön. Sie findet das nicht. Alles ist irgendwie zu groß im Gesicht. Und passt nicht zusammen. Zu viel. Und die Stimme. Ihre Stimme passt perfekt in das Gesamtbild, das sie vor sich sieht, wenn sie sie sieht, oder, besser gesagt, erlebt. Es ist so: Wenn sie so ist, wie sie ist, weil sie aufgesetzt ist, mag sie sie nicht, weil sie aufgesetzt ist. Falls sie aber so ist, wie sie ist, ohne dabei aufgesetzt zu sein, mag sie sie nicht, weil sie so ist, wie sie ist, ohne dabei aufgesetzt zu sein. Also: Sie mag sie nicht. Ihre Stimme, besser gesagt: wie sie diese einsetzt, spielt dabei eine große Rolle. Sie sagt Sachen mit dieser Stimme, die sie nicht mag. ‚Sau weich, oder?‘. Wenn sie nicht redet, ist sie arrogant. Es ist also das Gesamtbild, das stört. Sie mag sie nicht.

„Ja, echt mega weich“, sagt sie lächelnd und nippt an ihrem Getränk. Sie hat es in ihren Schneidersitz-Innenraum gestellt, um die totale Kontrolle zu haben. Das kann ihr echt niemand mehr erzählen, dass da ja schon nichts passiert, und doch nicht hier und so weiter. Die meisten solcher Geschichten passieren im Freundes- und Bekanntenkreis, das weiß sie. ‚Menschen halt, was soll man noch dazu sagen‘, denkt sie. Die meiste Zeit legt sie noch dazu möglichst zufällig aussehend die Handfläche auf die Öffnung des Glases, aber wenn sie das Gefühl bekam, jemand bemerkte es, nahm sie sie rasch weg. Sie will nicht paranoid oder unhöflich wirken.

Wieder stößt jemand gegen ihren Rücken. Das genervte Zungenschnalzen bleibt ihr zum Glück gerade noch so am Gaumen kleben. Das wäre jetzt so unendlich deutsch gewesen.
„Hey, es gibt Matcha!“, sagt der Rückenschubser mit Seidenstimme und Dickpupillen lächelnd in die Runde. Was für ein nerviges Lächeln. Aber Matcha mag sie gerne. Es riecht nach Zahnpasta und schmeckt wie Garten, findet sie. Sie mag Matcha sehr warm, ja, wenn nicht gar heiß.
Hier wird sie ihn natürlich nicht anrühren.

Wieso war sie eigentlich hergekommen? Fällt es ihr wirklich so schwer, einfach mal alleine zuhause zu bleiben? Ihr Rücken schmerzt, sodass sie den ständigen Impuls verspürt, die Wirbelsäule Seite für Seite durchzuknacken, indem sie die Hände erst auf ihre linke Seite stützt und sich dann dehnend mit nach links dreht und danach die Hände auf ihre rechte Seite stützt und sich dann dehnend mit nach rechts dreht. Sie muss den Impuls jetzt unterdrücken, da sie nach ihrem zweiten Knackdurchlauf diesen Abend plötzlich einen anderen, seidenstimmig Fettäugigen hinter ihrem Rücken kleben hatte, der sie ungefragt und äußerst schlecht begonnen hatte, zu massieren. Er hatte erst aufgehört, nachdem sie mehrmals vortäuschend lachend darauf hingewiesen hatte, es sei schon okay, sie hätte nur Muskelkater. ‚Es ist schon okay, danke, haha, ich glaube, ich muss meinem Rücken einfach etwas Ruhe gönnen, haha.‘ Er hat ihr dann gesagt, dass sie im Schulterbereich ganz schön verspannt sei. Aha. Ja. Danke.

Eigentlich glaubt sie, diese Schmerzen kommen von einer Hüftschiefstellung. Im Fitnesstudio, in dem sie seit einem Jahr nicht mehr war, hatte ihr diese Einweisungsperson damals gesagt, sie hätte eine. Sie hat sich immernoch nicht darum gekümmert. Sie muss morgen unbedingt bei ihrem Orthopäden anrufen. Sie mied diesen Anruf nun schon lange, da es ihr peinlich war, dass sie die letzte Krankengymnastiküberweisung nicht wahrgenommen hatte. Das Quartal geht immer so schnell vorbei. Aber morgen würde sie definitiv anrufen.

Sie blickt sich im Raum um. Die Leute machen sie krank, ihre Laune wird schlechter, sie findet keine Stimmung, sie will doch eigentlich gar nicht hier sein. Aber zuhause sind die anderen gerade irgendwie so ein geschlossener Kreis. Sie fragten sie nie, ob sie mit Rommé spielen wollte. Dabei hatte sie doch vorher nur zweimal nein gesagt. Hört man deswegen auf zu fragen? Menschen halt.
Sie blickt sich im Raum um. Sie will gehen. Auf das Aufstehen vorbereiten. Den richtigen Moment abpassen, dann planen, welches Bein sie als erstes aus ihrem wohlmöglich eingeschlafenen Schneidersitz zieht, das Glas nach dem Aufstehen unauffällig auf dieser Küchenarbeitsfläche zwei Meter hinter ihr abstellen, damit die anderen nicht sehen, dass sie es nicht ausgetrunken hat, Jacke im Haufen neben der Tür hoffentlich schnell und unangesprochen suchen und finden können und dann abhauen.

 

Noch kurz Vorbereiten. Die Hand wandert an die linke Schläfe. Ist da was, was da nicht hingehört?

Sie blickt sich im Raum um und denkt: ‚Ich bin traurig, weil ich scheiße bin. Ich bin traurig, weil ihr auch scheiße seid. Ich bin traurig, weil Alles verschwimmt. Ich bin traurig, weil ich nichts geträumt habe. Ich bin traurig, weil die Zeit so eindimensional ist. Ich bin traurig, weil emotionale Scheiße scheiß nervig ist. Aber nur, weil so ein paar Hippies über Regenbogen, gute Lösungen und Liebe reden wollen, lasse ich mich nicht auf ihre orangene Seite ziehen. Ihr kriegt mich nie, ihr garstigen Ratten!‘

Gleich geschafft.